AT24 im Gespräch: Anna Heringer
People, PorträtAnna Heringer, Architektin. Sie lebt und arbeitet in Deutschland und gilt als Vorreiterin des Nachhaltigen Bauens. Sie realisiert weltweit Projekte mit lokalen Handwerkern unter Berücksichtigung traditioneller Bauformen und Baustoffen wie Lehm. Seit 2005 betreibt Anna Heringer ein Architekturbüro unter eigenem Namen in Laufen/Deutschland. Sie realisiert Projekte in Asien, Afrika und Europa. Heringer hatte Gastprofessuren in Harvard, an der ETH Zürich, der Universität Liechtenstein, der TU München und der Linzer Universität. Seit 2010 hat sie einen UNESCO-Lehrstuhl für „Lehm-Architektur, Baukulturen und nachhaltige Entwicklung“ inne. 2020 erhielt sie den zum zweiten Mal vergebenen internationalen Obel Award der dänischen Henrik-Frode-Obel-Stiftung, der „herausragende architektonische Beiträge zur menschlichen Entwicklung“ würdigt. Ausgezeichnet wurde sie für ihr Projekt Anandaloy, ein Therapiezentrum für Menschen mit Behinderungen in Bangladesch. Im obersten Stock des Gebäudes befindet sich ein Atelier, in dem Schneiderinnen aus umliegenden Dörfern faire Mode und Textile Kunst produzieren. Das Haus wird vollständig mit Solarenergie betrieben.
»Nachhaltigkeit ist keine Frage von Technologien, Geld oder Materialressourcen – es ist alles da. Was uns fehlt, ist unsere innere Haltung und der Antrieb. Und wir haben uns über das Wirtschaftssystem selber ein Korsett geschaffen - das müssen wir dringend reformieren« – Anna Heringer
Das Thema der Architekturtage 2024 ist „Geht’s noch? Planen und Bauen für eine Gesellschaft im Umbruch“. Was geht Ihrer Meinung nach in diesem Kontext nicht mehr?
Österreich hat ja einen fantastischen Philosophen, Leopold Kohr, der fällt mir hier ein, er ist ja eigentlich der Urvater des Prinzips „small is beautiful“. Dabei geht es ja auch um die Problematik, wenn etwas ins Übermaß kippt, d.h. aus der Proportion, aus dem Verhältnis kippt. Dieses Übermaß geht nicht mehr – wir müssen hin zur glücklichen Genügsamkeit. Und das bedeutet im Prinzip, dass wir wieder eine alte Kulturtechnik der Menschheit anwenden, nämlich zu schauen, welche Potenziale habe ich vor Ort, welche Potenziale habe ich in mir, in meiner Gemeinschaft – und wie kann ich aus diesen Potenzialen heraus das Beste gestalten. Das hat aber nicht nur mit Pragmatismus, sondern auch mit spielerischer Freude und durchaus auch Poesie zu tun.
Das Problem ist, dass die menschliche Energie, also das Handwerk, extrem hoch besteuert ist, und das CO2 viel zu niedrig besteuert ist. Es besteht keine Kostenwahrheit bei Materialien, d.h. wenn ich mir einen Kubikmeter Material kaufe, muss ich mit hinein rechnen, wie viel Kosten entstehen bei der Entsorgung? Wie gut kann ich es recyclen? Welchen Müll produziere ich? Dafür bräuchten wir neue Kostenwahrheiten – also beim Kaufpreis. Jetzt verzögern wir ja nur die Probleme und verlagern sie auf die nächsten Generationen, weil wir uns wieder für das Billigere entscheiden, weil wir nicht die Kosten mit hinein rechnen, die für die Natur entstehen … Und das geht nicht mehr – das müssen wir weg davon!
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen vor denen die Architektur, das Ingenieurswesen und die Baukultur stehen?
Wenn ich zum Beispiel in Bangladesch baue, dann ist mein innerer Kompass ausgerichtet nach der Intention und dem gesunden Menschenverstand. Und wenn ich hier in Europa baue, dann habe ich das Gefühl, dass ich dirigiert werde von Regeln und Normen und wirklich das Gefühl habe, es wird mir über die Baustoffe vorgeschrieben, wie ich zu entwerfen habe. Und das hat nichts mehr mit einem gesunden Menschenverstand zu tun. Und was in Bangladesch auch klar ist, die nachhaltige Variante ist normalerweise auch die günstige Variante, und auch die schönere. Und bei uns ist die nachhaltige Variante immer die teurere. Und das ist wider die Natur. Wenn ich ein Material aus China herbringen muss, das ich nicht reparieren kann, dann ist das die billige Variante. Wir haben uns über das Wirtschaftssystem hier selber ein Korsett geschaffen, das wir dringend reformieren müssen!
Was sind Ihre persönlichen drei Wünsche an eine zukunftsfähige Bauwirtschaft und Bausektor?
Nachhaltigkeit ist keine Frage von Technologien, Geld oder Materialressourcen – es ist alles da. Was uns fehlt, ist unsere innere Haltung und der Antrieb. Derzeit sind wir stark von der angetrieben von der Angst – und die Angst würde ich gerne ersetzen durch die Liebe. Wenn wir aus der Liebe dem anderen gegenüber handeln, der Mitwelt, der Natur gegenüber, dann entsteht Nachhaltigkeit auf völlig natürliche Art und Weise. Und das wünsche ich mir. Dass dieses „form follows function”, “form follows profit”, “form follows fear” – ersetzt wird durch “form follows love”.
Wie leben und wohnen die Menschen in 50 Jahren?
Wir rücken wieder mehr zusammen, wir bauen mit den Materialien von vor Ort, wir helfen uns gegenseitig, wir reparieren - und weil das so eine enorme Anstrengung ist, den Klimawandel zu stemmen, und auch die soziale Ungerechtigkeit auszugleichen, müssen wir alle unsere Kräfte aktivieren und zusammenhalten. Und wenn man spürt, dass man gemeinsam etwas bewirken kann, dann kann das auch die Gemeinschaft stärken!